
auf dem ‚Affenfelsen‘ in Svolvær
Montag, 1. August
Einer der Programmpunkte, mit deren in Aussicht gestellter Durchführung ich meinen Sohn zu dieser Reise überreden konnte, ist die Tagestour mit einem Postschiff der Hurtigruten. Nicht, daß ich für unseren Trip viel Überzeugungsarbeit hätte leisten müssen – aber diese Fahrt war praktisch der letzte Baustein in unserem geplanten Reiseprogramm, der den Ausschlag zum „Ja, ich will unbedingt mitkommen“ gab.
Nach dem Frühstück gehen wir vor zum Affenfelsen und klettern heute mal runter zur Straße. Anne Gerd hat uns nämlich gestern eine normalerweise nur den Einheimischen bekannte Abkürzung für den Fußweg in die Stadt gezeigt, die unsere Laufdistanz zur Bushaltestelle um 90% verkürzt. Meine Kinder nennen solche Stock-und-Stein-Strecken immer gerne „Abenteuerweg“, und man kann sie zu den meisten (auch längeren) Wanderungen motivieren, wenn die Chance besteht, daß neben dem Hauptweg ein solcher Pfad verläuft.
Die Bushaltestelle liegt direkt am Yachthafen von Svolvær, was uns hilft, die Wartezeit schnell herumzubringen. Heute ist das Wetter sehr schön und dementsprechend viel Bootsverkehr. Der Bus kommt und bringt uns in ca. 45 Minuten zum kleinen Hafen in Fiskebøl, wo die Fähre nach Melbu auf der Insel Hadseløya ablegt. Die Fahrpläne sind erfreulich exakt aufeinander abgestimmt, sodaß hier keine Wartezeiten entstehen. Das Ticket gilt auch für die Überfahrt auf die andere Seite des Hadselfjordes. Der Bus fährt in den Bauch der Fähre ein. Das heißt: alle Insassen müssen jetzt erst einmal aussteigen und gehen hoch in den Salon bzw. auf das Außendeck, wo man heute bei strahlendem Sonnenschein und – in unserem Fall – einer Tüte Eis – die vierzigminütige Passage auf sehr angenehme Weise hinter sich bringen kann. Auf der südlichsten Vesteråleninsel angekommen, wird der Bus wieder geentert, und die Fahrt geht weiter ins nur wenige Kilometer entfernte Stokmarknes. Da wir superpünktlich sind und bis zur Abfahrt unseres Schiffes noch eine Stunde Zeit haben, steigen wir eine Station vor dem Hafen aus und laufen ein paar Meter durch die kleine Einkaufsstraße. Johannes findet leider keine ansprechenden Souvenirs und schont wieder mal seine kleine Reisekasse, aber das hätte ich ihm nach den Erfahrungen der letzten Touren auch vorher schon sagen können. Im Bericht von 2009 hatte ich das verbesserungswürdige Angebot an Mitbringseln bereits einmal angesprochen – bis heute hat sich an dem Zustand jedoch nichts geändert. Ich kann Johannes immerhin mit der Aussicht vertrösten, daß wir am Ende unserer Reise in Oslo sicher noch ein paar bessere Souvenirläden finden werden. Außerdem trötet es gerade ziemlich laut, was bedeutet, daß unsere Mitfahrgelegenheit, die MS „Trollfjord“, bereits die Hadselbrua passiert hat und innerhalb der nächsten 10 Minuten anlegen wird. Mein Filius geht heute zum ersten Mal an Bord eines so großen Schiffes und ist ziemlich aufgekratzt, wie denn das wohl so sein mag. Wir müssen am Kai noch kurz warten, bis die ganzen Hundertjährigen (gefühlt die Hälfte der Passagiere) vom Schiff in Richtung Hurtigruten-Museum gewankt sind, dann können wir zur Rezeption. Nach dem Überreichen der Bordkarte wird zunächst erst mal der Dampfer von unten nach oben inspiziert. Wir machen einen Rundgang auf allen zugänglichen Decks, der an der Bar auf dem Sonnendeck endet. Hier wird gerade gegrillt, und Johannes bekommt spontan Hunger auf eine Bratwurst. Mein Hinweis, daß das so bezeichnete Lebensmittel mit dem, was wir unter Bratwurst verstehen, nicht viel gemein haben kann, wird ignoriert.
Na gut, dann esse ich eben auch eine, wird vielleicht doch nicht so künstlich schmecken, wie sie aussieht. Ich beiße rein und denke mir „Ich hab’s ja gewußt.“ Bäh, was für ein Dreck! Wer jemals die Scheibenwelt-Romane des britischen Schriftstellers Terry Pratchett gelesen hat, der erinnert sich vielleicht an eine zwielichtige Figur namens „Treibe-mich-selbst-in-den-Ruin-Schnapper“. Dieser taucht spontan überall da auf, wo etwas los ist und verkauft dort Würstchen-Look-alikes mit Ingredienzen von mehr als zweifelhafter Herkunft. Jedoch traut sich niemals auch nur einer, ihn zu fragen, was er da für ein Teufelszeug anbietet. So genau möchte man das vermutlich gar nicht wissen. Es überwiegt im Allgemeinen die Hoffnung, daß die Zutaten zumindest natürlichen Ursprungs sind. So ähnlich geht es mir heute. Johannes kann meine Mäkelei gar nicht verstehen und ißt auch noch die Hälfte meiner Wurst auf.
Pünktlich um Viertel nach drei legt das Schiff ab. Wir haben wegen des warmen Wetters unsere Schwimmsachen eingepackt, um vielleicht in einem der auf Deck 8 herumstehenden Whirlpools ein spontanes Bad nehmen zu können, müssen aber feststellen, daß wir mit dieser Idee nicht die Einzigen sind. Alle Plätze belegt, auch die Liegestühle werden knapp. Nun ja, mein Sohn hätte es vermutlich eh kaum 5 Minuten auf so einem Ding ausgehalten. Also gehen wir noch mal runter in die Cafeteria und holen uns noch ein Eis. Relativ schnell haben wir den Raftsund erreicht, und jetzt kommt auch an Steuerbord schon die MS „Orca“ angerauscht, die die Teilnehmer der Seeadlersafari abholt. Wir verfolgen das Andockmanöver und das Übersetzen der Passagiere, bevor wir nach vorne laufen, um bei der Einfahrt in den Trollfjord besser sehen zu können. Ich zeige Johannes auf der Backbordseite den Berg Digermulenkollen, auf den wir übermorgen noch wandern wollen, um die Schiffspassage durch den Raftsund aus einer anderen Perspektive zu erleben. Der Rest der Fahrt ist das Übliche: Trollfjord rein, Wenden auf der Stelle (Raunen im Publikum, wie der große Pott das hinbekommt), raus aus dem Trollfjord, Stormolla, Lille Molla, Svolvær Ankunft, Aussteigen, Foto mit Schiff und Winke-Winke.
Wir haben seit heute mittag nichts Richtiges gegessen. Überdies herrscht immer noch Sonnenschein bei angenehmen 20°C, darum entscheiden wir uns für den Biergarten im Restaurant „Anker Brygge“, direkt am Hafen. Von hier aus können wir nicht nur unser Schiff noch mal sehen, sondern auch die beiden Wasserflugzeuge, die heute zu Johannes‘ großer Freude noch einmal hier vor Anker gegangen sind. Mein Sohn nimmt wieder den Hamburger, während ich mich für frisch gegrilltes Steak vom Wal entscheide, weil ich das noch nie probiert habe. Schmeckt erstaunlich gut: wie Fisch auf halbem Weg zur Kuh – sogar mein Sproß probiert davon und verlangt ständig Nachschub, bis wir letztlich die Teller tauschen. Nach dem Essen lassen wir uns etwas Zeit und spazieren noch ein wenig im Stadtzentrum von Svolvær herum, bis wir schließlich das Ablegen des Postschiffs live vom Kai aus verfolgen können. Den Abend verbringen wir bei Anne Gerd auf der Terrasse bzw. vorne auf dem Affenfelsen, telefonieren später noch mit unseren Mädels daheim und beenden den Tag gegen zehn Uhr.
Blick zum Stetind
Dienstag, 2. August
Heute ist mal wieder Wandern angesagt, nach dem eher faulen Tag auf dem Postschiff. Allerdings spielt das Wetter noch nicht ganz kumpelig mit, als wir frühstücken, und so verarbeitet Johannes (im wahrsten Sinne des Wortes) am Vormittag erst einmal die vielen Eindrücke von gestern. Der große Lego-Sack wird wieder auf dem Fußboden im Wohnzimmer ausgebreitet, und anhand der im Bordshop der „Trollfjord“ gekauften Ansichtskarte wird der Dampfer mit den kleinen Plastiksteinen nachgebaut. Dazu noch eins der Flugzeuge, die wir am Tag zuvor im Hafen haben starten sehen – und rum ist der Vormittag.
Anne Gerd kommt vom Einkaufen aus der Stadt zurück und fragt uns, ob wir am Nachmittag schon etwas vorhaben, denn sie kennt eine Wandertour, die sie zusammen mit ihren Kindern oft gegangen ist. Es trifft sich gut, daß entlang der Wegstrecke einige Blaubeerfelder zu finden sind, denn ihre Vorräte am genannten Obst gehen allmählich zur Neige. Unsere Herbergsmutter bietet uns an, uns mit samt Picknick-Vorräten zu begleiten. Wer kann dazu schon nein sagen? Wir essen noch gemeinsam zu Mittag, dann werden die Wanderschuhe angezogen, vorsichtshalber die Regenjacken eingepackt – und los geht es. Zunächst erst mal runter von der Villa Hügel, am See Gardsosen vorbei bis fast zum Haus von Anne Gerds Freundin Mona auf der anderen Uferseite.
Hier zweigt ein schmaler Pfad von der Straße ab und führt direkt steil bergauf. Es geht vorbei an kleinen Tannen, Moosfeldern und Blaubeerbüschen. Nach etwa einem Kilometer lichtet sich die Vegetation: wir haben den See Grønnåsvatnet erreicht. Hier befindet sich ein kleiner Rastplatz mit Feuerstelle, viele Blaubeerbüsche (wo Anne Gerd gleich erst mal hin muß, um die Qualität der Früchte zu probieren) und – was das Beste ist – ein flaches Ufer mit vielen handlichen Steinen zum Ins-Wasser-Werfen. Mein Sohn nutzt die kurze Pause und befördert vom kleinen Kiesel bis zum mittelgroßen Felsen allerlei Brocken in das Gewässer. Als Johannes gerade eine Stelle mit ganz vielen flachen Steinen am Ufer entdeckt hat, kehrt Anne Gerd mit der ersten Tüte voller Blaubeeren aus dem Wäldchen zurück und ruft zum Aufbruch. Also müssen wir auf dem Rückweg hier nochmals halten, denn wir Jungs wollen noch einen kleinen Wettkampf starten, wessen Stein die meisten Sprünge übers Wasser schafft.
Jetzt führt der Pfad wieder steil bergan, schlängelt sich um einen gut verborgenen Wasserfall herum (an dem abermals Steine geworfen werden müssen – so viel Zeit muß sein) und verläßt allmählich die Vegetationszone. Wir können den ersten Ausblick auf Svolvær genießen.
Wenn man mit Kindern wandern möchte, hat man zwei Aufgaben zu lösen: Erstens, eine Strecke finden, die der körperlichen Verfassung der Sprößlinge gerecht wird, denn sonst kann man derartige Aktivitäten in Zukunft wegen zu erwartender Totalverweigerung mal glatt vergessen. Und zweitens muß der Nachwuchs während der Tour immer mal wieder zum Weitergehen motiviert werden, speziell dann, wenn die Kräfte (gefühlt oder tatsächlich) nicht mehr lange reichen oder die Kinder einfach keine Lust mehr haben. Johannes ist, was den ersten Punkt angeht, fast so fit wie ein Erwachsener, oder – wie mein Vater sagen würde: „Den kriegste einfach nicht platt!“ Aber bei Voraussetzung Nummer zwei ist heute etwas Überredungskunst gefragt, und hier beweist Anne Gerd wahre Meisterschaft. Sie bittet uns, bei einer kurzen Verschnaufpause, sitzen zu bleiben, weil sie angeblich erst einmal die richtige Wegstrecke erkunden müsse. Nach einer Weile kommt sie zurück, zwinkert mir verschwörerisch zu und erzählt meinem Jungen, sie habe weiter oben einen Troll in Richtung Gipfel wegrennen sehen. Der habe einen Sack über der Schulter gehabt, aus dem so etwas wie gelbe Steine herausgefallen seien. Leider konnte sie ihn nicht verfolgen, weil er zu schnell gewesen sei, hat aber seine Spuren markiert. Jetzt ist mein Sohn hellwach! Sofort wird losgestürmt und nach dem ersten Zeichen, einem Pfeil aus kleinen Ästen, gesucht. Ich laufe hinten und kann bereits nach wenigen Minuten den Jubel hören, als Johannes die erste Markierung entdeckt hat. Einige Meter weiter oben sei dem Troll der erste gelbe Brocken aus dem Rucksack gefallen, sagt Anne Gerd – und weiter rennt der kleine Mann den Berg hoch. Erneute Freudenschreie, als er den „Stein“ gefunden hat. Es ist kein Goldklumpen, wie zunächst von Johannes vermutet worden war, sondern ein Riegel „Kwikk Lunsj“, der norwegischen Variante von KitKat. Daneben liegt ein kleiner Zettel mit norwegischem Gekritzel. Offensichtlich eine Wegbeschreibung zur Höhle des Trolls, hoch in den Bergen. Mein Sohn kann es kaum fassen: sollte er einer der wenigen Menschen auf der Welt werden, denen die Sichtung dieses norwegischen Fabelwesens gelang? Jedenfalls ist sein Ehrgeiz geweckt, und wir setzen unsere Suche nach dem nächsten gelben Riegel fort, denn wo einer aus dem offensichtlich kaputten Sack des Trolls gefallen ist, da liegen bestimmt noch mehr. Ein paar Minuten später wieder ein Freudenschrei – der zweite Kwikk Lunsj mit einem weiteren Zettel. Offensichtlich wohnt weiter oben, in ein paar Höhlen unterhalb der Gipfel von Jomfrutind, Blåtind und Tuva, eine ganze Familie der Zottelwesen. Jedenfalls übersetzt Anne Gerd das zittrige Gekrakel so: Der Troll läßt seine Angehörigen wissen, daß er auf dem Weg nach oben ein paar Schokoladenvorräte an verschiedenen markanten Punkten deponiert hat. Für jedes Familienmitglied ein Paket. Das erste soll an einer alten Hütte unterhalb des Tuvavatnet zu finden sein. Wir können das verfallene Häuschen bereits sehen, und Johannes marschiert voran. Anne Gerd ermuntert ihn, rund um die Hütte mal genauer nach kleinen Versteckmöglichkeiten zu suchen, und tatsächlich findet er nach kurzer Zeit ein Paket Trollschokolade, das unsere Führerin in einem unbeobachteten Moment dort plaziert hat. Die Freude über den Fund weicht der Sorge, was denn wohl die eigentlichen Empfänger der Rationen mit uns anstellen würden, wenn sie mitbekommen, daß wir die geklaut haben.
Aber Anne Gerd ist nicht um eine Antwort verlegen: „Wir klauen die nicht, wir können sie ja den Trollen persönlich vorbeibringen.“ Das beruhigt ihn erst einmal für eine Weile.
Das nächste Paket finden wir an der Staumauer des Tuvavatnet, dem ehemaligen Trinkwasser Reservoir der Stadt Svolvær. Dann noch eins am Rande eines Schneefeldes, kurz unterhalb des Jomfrutinden. Jetzt, wo der Gipfel schon recht nahe ist, wird Johannes doch etwas mulmig. Die Trolle sollten praktisch nur ein paar Meter entfernt wohnen. Hoffentlich sind die nicht sauer, daß wir ihre Schokolade genommen haben. Wir beschließen, selbst ein Depot für sie anzulegen, schichten während unserer Rast einen kleinen Steinhaufen auf und lassen Johannes die gefundenen Schokoriegel darin einbetten. Jetzt hat er auch endgültig genug vom Laufen und bittet um Rückkehr nach Hause. Während er mit Anne Gerd voraus läuft, kann ich noch ein paar Fotos der Umgebung machen und nebenbei unsere Schoki wieder mitnehmen. Der Abstieg geht zügig voran, und so stehen wir nach einer Stunde wieder am Grønnåsvatnet. Da war doch noch was? Richtig, wir wollten ja noch Steine werfen. Wie weggeblasen ist die Müdigkeit, als wir am Ufer unseren kleinen Wettkampf starten, während Anne Gerd zu einer zweiten Runde Beerensammeln wieder im nahen Unterholz verschwindet. Eine halbe Stunde später verzehren wir an der Feuerstelle unsere restlichen Vorräte, bevor wir uns auf das letzte Wegstück nach Hause machen. Nach der mehr als fünfstündigen Wanderung und fast 1000 zurückgelegten Höhenmetern (500 hoch und 500 wieder runter) sind wir ziemlich platt, als wir die Villa Hügel erreichen. Zum Abendessen gibt es aufgewärmte Reste vom Vorabend, denn das geht am schnellsten. Unser allabendlicher Ausflug zum Affenfelsen, von wo aus wir unsere Mädels daheim anrufen müssen, fällt heute ziemlich kurz aus. Und zum ersten Mal geht Johannes so richtig platt ins Bett.
Tuvavatnet, oberhalb von Svolvær

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