Gjain
Montag, 20. September
Was wir aus dem heutigen Tag rausholen können, wissen wir beim Frühstück noch nicht. Angesagt ist jedenfalls für Fotografen denkbar unbrauchbares Wetter: diesig bis neblig, später Regen von der Seite, bedeckt den ganzen Tag. Dazu Temperaturen nur eine Handbreit über dem Gefrierpunkt. Challenge accepted! Nach dem Essen versuchen wir nochmal, auf der Landmannaleið ins Hochland zu fahren, aber entlang der Strecke kann man kaum 100 Meter weit gucken. Selbst die Filmcrew hat abgebaut und kommt uns nun in einem langen Treck aus LKWs und Pickups mit Anhängern voller Equipment entgegen. An der Stelle, wo gestern die Dreharbeiten stattgefunden haben, entschließen wir uns zur Umkehr – ohne Sicht macht das einfach keinen Spaß. Was geht bei solchem Wetter eigentlich immer? Wasserfälle, na klar. Naß ist es hier sowieso, und bei den Detailaufnahmen kommt es auch nicht so sehr auf einen fotogenen Himmel an. Wir steuern unseren Toyota zu einem in einer Schlucht namens Gjain versteckten Wasserfall. Hier überwindet der Fluß Rauða in mehreren Kaskaden einen Höhenunterschied von etwa 40 Metern, wobei knapp die Hälfte auf das Konto des Hauptfalles Gjarfoss gehen. Einmal kurz die Drohne fliegen lassen – zum Glück ist gerade niemand hier – dann Kamera raus und runter in die Schlucht gelatscht. Wenigstens ist diese windgeschützt, aber der der Regen dringt auch hierhin vor, so daß das Wischtuch zum Reinigen der Objektivlinse der wichtigste Gegenstand im Rucksack ist. Nach einer Stunde haben wir fertig und folgen der Nebenstrecke zu einer ausgeschilderten Sehenswürdigkeit namens Stöng. Der Name klingt einprägsam, das muß ja was Tolles sein. Zehn Minuten Fußweg und dann – ach herrje, kaum erkennbare und nur spärlich beschriftete Fundamente einer alten Wikinger-Siedlung. Lediglich das ehemalige Langhaus ist mit einer Holzkonstruktion überdacht, so daß man hier mal für ein paar Minuten dem Regen entkommen kann. Lohnt aber nicht wirklich. Micha hat sich gestern Abend daran erinnert, daß er mit seinem Vater vor zwei Jahren bei einer Sehenswürdigkeit namens „The Cave People“ war. Hierbei handelt es sich um eine natürliche Höhle, die von einer Familie mit Hausbauteilen am Eingang verkleidet wurde und dann über mehrere Jahrzehnte als Wohnraum diente. Auf dem Weg zur Attraktion kommen wir an der fortgeschrittenen Version eines isländischen Waldes vorbei, der natürlich von Herrn Hyna erkundet werden muß. Mich reizt das angesichts des Wetters nicht so sehr, da mache ich lieber ein Nickerchen im Auto. Auf dem Weg zu Höhle Laugarvatnshellir dreht kurz vor dem Ziel der Wind kräftig auf, und es bereitet Mühe, das Auto auf der Straße zu halten. Als wir auf dem Parkplatz eintreffen, kriegen wir kaum die Autotür auf, so sehr bläst es inzwischen. Am Eingang der Höhle ein handgemaltes Schild: “Nächste Führung in 30 Minuten”. Das paßt uns ganz gut, die Zeit bis dahin werden wir mit einem schnellen Lunch überbrücken. Warmes Essen käme uns recht, aber wo kochen bei dem Sturm? Einzige Lösung: der Toyota wird mit der Schnauze in den Wind gestellt und der Kocher auf der zum Glück recht breiten Ladekante plaziert. Heute gibt’s Pfälzer Saumagen mit Sauerkraut und Kartoffeln. Weil wir nur einen Topf haben, in dem möglichst gleichzeitig alles gar werden soll, schmeißen wir die Ingredienzen einfach zusammen. Sieht nicht sehr lecker aus, schmeckt aber ganz passabel. Was Senf alles leisten kann… Wieder oben beim Eingang angekommen, verabschiedet der Guide gerade die vorhergehende Besuchergruppe und kümmert sich nun allein um uns. In der nächsten dreiviertel Stunde werden wir durch die gesamte Anlage geführt, können dabei nach Herzenslust fotografieren und erfahren allerlei Gossip aus der bäuerlichen isländischen Gesellschaft von vor 50 Jahren. Als wir nach dem Besuch die Höhle wieder verlassen, hat der Sturm die Wolken aufgerissen und die Sonne zum Vorschein gebracht. Wir verabschieden uns von Herrmann, unserem engagierten Guide und beraten auf dem Weg hinunter zum Parkplatz den nächsten Zwischenstop. Leider befindet sich in der Nähe kein adäquates Fotomotiv, außer vielleicht der Geysir. Naja, dann fahren wir mal dorthin. Besser als nix. Bereits bei unserem ersten Besuch war diese Sehenswürdigkeit schon gut erschlossen, aber was die Isländer dort mittlerweile an Einrichtungen zur Touristen-Abfertigung rund um den Geysir errichtet haben, macht mir klar: zum Phänomen „Overtourism“ gehören zwei Seiten. Natürlich die Menschenmassen, die das Land fluten, aber eben auch viele Einheimische, die sich daran eine goldene Nase verdienen. Und hier läuft das Geschäft offensichtlich prächtig. Zwanzig Minuten später und um ein paar Knipsebilder vom ausbrechenden Strokkur reicher machen wir uns wieder auf die Rückfahrt. Zwischendurch gibt es leichte Verstimmung in der Reisegruppe, nachdem ich zum ersten Mal auf meinen Touren einen „yellow weather alert“ per E-mail von unserem Mietwagenanbieter erhalten habe. Darin wird morgen vor Reisen abgeraten, aber besonders von Fahrten durchs Hochland, weil der Wetterdienst (und das sind sicher keine Weicheier) mit Schneesturm, Graupel und Eis rechnet – das Ganze bei Windgeschwindigkeiten von 70 und in Böen bis 100 km/h. Für mich ist die Lage völlig klar: unter diesen Bedingungen fahren wir keinesfalls eine uns unbekannte Hochlandstrecke von 250 Kilometern Länge, bei welcher der Schwierigkeitsgrad durch weitgehend unzureichenden Handyempfang und keinerlei vorhandenes Bordwerkzeug zur möglichen Selbstbergung auf unangenehm lebensgefährliches Niveau gesteigert wird. Mein Kumpel sieht die Sache erwartungsgemäß deutlich entspannter und ist etwas pikiert darüber, daß ich in der darauf folgenden Diskussion um unterschiedliche Risikobereitschaft die morgige Querung von Islands Mitte unter Androhung eines abrupten Gruppensplits kategorisch ablehne. Bis zur Ankunft am Haus herrscht Schweigen im Auto. Am Abend haben wir uns dann wenigstens wieder soweit angenähert, daß wir den nächsten Morgen abwarten wollen, aber angesichts der düsteren Wetteraussichten mal lieber zeitig aufstehen werden, um im Zweifel früh loszukommen. Das Hauptwindfeld des angekündigten Sturms soll am späten Vormittag auf Islands Westküste treffen und bis zum Nachmittag fast das ganze Land bis auf ein paar Regionen im Nordosten erreichen. Klingt nicht gut. Wir packen unser Zeug zusammen und gehen früh zu Bett, zumal die Stimmung auf niedrigem Niveau verharrt.
Dienstag, 21. September
Ich habe nicht besonders gut geschlafen und werde vom Klappern der Hausverkleidung gegen 5:30 Uhr wach. Mal das Handy einschalten. „Düb-i-düb“ tönt es mir entgegen: eine neue E-mail von MyCar. Die gelbe Wetterwarnstufe von gestern wurde am frühen Morgen auf orange hochgestuft. Bedeutet im Klartext: Wind bis zu 120 km/h in den Böen und definitiv Schneesturm im gesamten Hochland. Eine Warnung an alle Wanderer, unbedingt in Schutzhütten zu bleiben und keinesfalls rauszugehen – es droht Lebensgefahr. Wohnmobile und Wohnwagengespanne haben striktes Fahrverbot, an alle anderen Fahrer ergeht der Aufruf, Reisepläne zu überdenken. Wenn jetzt nicht auch Micha klar ist, daß es zum Weg außen rum keine Alternative gibt, dann weiß ich nicht… Ich klopfe mal vorsichtig an. Er ist schon wach und natürlich nicht gerade erfreut ob der Hiobsbotschaft des isländischen Wetterdienstes. Ich biete ihm darum an, die gesamte Strecke zu fahren. Kein Katzensprung – 700 km außen rum statt 250 mittendurch. Was will man machen? Wir frühstücken nur kurz, packen dann unsere Sachen zügig ins Auto und räumen noch schnell die Hütte auf. Kurz nach 8 Uhr brechen wir auf. Bis Reykjavik ist alles okay, wir haben ja den Wind von vorne. Es regnet in Strömen, und eine lange Wagenkolonne schiebt sich in Richtung Westen. Zwei Stunden später haben wir die Hauptstadt passiert und bewegen uns entlang der Westküste nach Norden. Und jetzt nimmt auch der Wind an Fahrt auf. Das erste Hinweisschild an der Mosfellsheiði warnt in Rot vor Windböen bis 40 m/s, das sind über 140 km/h direkt von der Seite – heißt also: Lenkrad gut festhalten und immer den Gegenverkehr beobachten. Bis Borgarnes ist es ein einziges Geruckel und Gezerre am Auto, das nervt! Eine kurze Tankpause muß sein, damit wir den Rest der Strecke bei Bedarf am Stück zurücklegen können. Auf den nächsten hundert Kilometern läßt der Wind im hügeligen Gelände abseits der Küste etwas nach, trifft uns aber wieder mit voller Wucht, als wir bei Blönduos im Nordwesten wieder das Meer sehen können. Bei der Passage der Öxnadalsheiði kurz vor Akureyri setzt plötzlich dichter Schneefall ein, und wir fahren auf bereits weißer Straße. Wenig später reihen wir uns in einen Autokonvoi ein, der einem Schneepflug Richtung Osten folgt. So können wir immerhin sicher sein, nicht irgendwo hier in einer Schneewehe stecken zu bleiben. Beim Mittagessen in Islands zweitgrößter Stadt checke ich mal die Straßenzustands-App. Oha! Der Abschnitt der Ringstraße, über den wir gerade im Geleitzug noch hergekommen sind, ist nun auf unbestimmte Zeit wegen Schneeräumung gesperrt. Glück gehabt! Wir beenden unseren Lunch bei Domino’s Pizza und machen uns auf das letzte Stück Weg bis zu unserem nächsten Quartier in Möðrudalur. 150 Kilometer sind es noch, und das Wetter wird bislang nicht besser. Aber immerhin haben wir jetzt neue Energie getankt und vertragen uns beide auch wieder. In Reykjahlíð am Mývatn werden nochmal die Biervorräte aufgestockt, dann heißt es “Endspurt”. Kurz vor dem Ziel suche ich an einem bestimmten Parkplatz an der Straße die kleine Bronzefigur, deren Foto mir seit Jahren als Profilbild dient. Leider habe ich kein Glück. Beim Rückweg zum Auto muß ich mit voller Kraft und viel Schräglage gegen den Sturm angehen, der mir mit Wucht ins Gesicht bläst und das Atmen enorm erschwert. Am frühen Abend erreichen wir unsere Unterkunft. Jetzt ist erst mal Zeit für eine heiße Dusche! Danach geht’s mir besser. Nach der langen Fahrt strecke ich mich ein paar Minuten auf dem sehr bequemen Bett aus und lasse den Blick durch unser Zimmer schweifen. Alles neu und sehr gemütlich in honigfarbenen Holztönen eingerichtet. Eine Fußbodenheizung sorgt für behagliche Wärme. Genau das Richtige an einem naßkalten usseligen Herbsttag wie heute. Draußen hat es immerhin aufgehört zu schneien, und der Wind weht längst nicht so stark wie auf der anderen Seite der „sieben Berge“. Hier fühle ich mich richtig wohl und bin happy über die Wahl dieser Unterkunft, zumal auch das Preis-Leistungsverhältnis stimmt – was ja in Island leider oft nicht der Fall ist. Für 19 Uhr haben wir einen Tisch fürs Abendessen im Haupthaus reserviert, das sich etwa 200 Meter entfernt von unserem Gebäude befindet. Die Speisekarte bietet inklusive Vorspeisen nur zehn Gerichte aus überwiegend lokalen Zutaten, davon trifft etwa die Hälfte meinen Geschmack. Das paßt ganz gut, denn wir haben drei Übernachtungen gebucht, da kann ich also jeden Abend eine andere Spezialität probieren. Heute starte ich mit in der Pfanne gebratenem arktischen Saibling mit Kartoffelstampf und Salat. Die Portion ist nicht riesig, aber für heute absolut ausreichend, denn die große Pizza vom Mittag ist schließlich noch nicht allzu lange her. Während wir essen, lösen sich ganz weit hinten im Westen des Hochlandes die Wolken auf. Das ist bestimmt ein gutes Omen für morgen, denn die vorherrschende Windrichtung ändert sich in den nächsten Tagen nicht. Die Wetter-App verspricht Sonne mit Wolken, was meine Laune bereits deutlich verbessert. Endgültig wieder im grünen Bereich ist sie, als Micha beim Feierabendbier mich mit seiner Bemerkung überrascht, daß die Entscheidung, heute den sicheren langen Weg zum zweiten Quartier zu nehmen, wahrscheinlich die richtige war. Ganz kann er dann doch nicht aus seiner Haut: „Wir hätten’s sicher auch mittendurch geschafft.“ Ich lasse das unkommentiert stehen. Entscheidend ist die Tatsache, daß wir beide hier beim Bier in einer gemütlichen warmen Bar irgendwo im nordöstlichen Hochland sitzen, um uns rum nur kalte lebensfeindliche Ödnis. Was für ein Kontrast! Damit endet dieser lange Reisetag – mit vielen Eindrücken, aber nur wenigen Fotos.
die sieben Berge von Möðrudalur
Kommentare sind deaktiviert