
Viti-Krater an der Askja, zentrales Hochland
Donnerstag, 29. Juni
Heute wird ein langer Tag, das bestätigt uns Guðruns Ehemann Bjørn, der das Frühstück serviert und mit dem wir ein wenig ins Plaudern kommen. Unseren Plan, zur Askja zu fahren und möglichst viele Fotohalte unterwegs einzulegen, findet er angesichts der Wettervorhersage sehr gut, mahnt uns aber, die Entfernungen bzw. die damit verbunden Fahrzeiten nicht zu unterschätzen. Und bittet uns, wenn wir wie zu erwarten spät heimkehren, leise zu sein, um die anderen Gäste im ausgebuchten Haus nicht zu wecken. Unser Wort drauf!
Wir umrunden den See Myvatn auf der Nordseite, die wir bei unserer letzten Tour leider auslassen mußten. Mini-Vulkankegel ragen rechts und links der Straße auf. Hier möchte Micha heute abend auf der Heimfahrt gerne noch einmal hin und diese Hügel fotografieren. Am meisten fasziniert ihn aber eine Landschaftsart, die wie aus der Ebene herausquellende Rücken überdimensionaler Krustenbrote aussieht. Form und Farbe stimmen – hier werden wir ebenfalls noch einmal fotografisch tätig werden müssen. Aber wir denken an den Rat von Bjørn und verschieben das auf später. Sehen wir erst einmal zu, daß wir den Abzweig zur „Autobahn“ F88, der nördlichen Zufahrt zu den Vulkanen Herðubreið und Askja erreichen. Verfehlen kann man sie eigentlich nicht, denn markiert wird sie durch einen alten Pseudokrater namens Hrossaborg, an dem auch schon Szenen des von mir ob seiner stimmigen Optik sehr geschätzten Science-Fiction-Films „Oblivion“ gedreht wurden. Da im Augenblick aber gerade ein Regenschauer durchzieht, lassen wir die Location rechts liegen und fahren geradewegs auf die F88. Immerhin 60 Kilometer sind es bis zum ‚Schicksalsberg‘ Herðubreið – alle Achtung, denn dank klarer Luft und guter Fernsicht scheint er zum Greifen nah.
Wie erwartet führt die Strecke durch surreal karge Mondlandschaft. Erstaunlicherweise ist sie im ersten Abschnitt deutlich besser zu fahren als der Kjalvegur gestern. Micha freut das, denn er darf heute zum größten Teil am Steuer sitzen. Ich als Beifahrer kann dafür die perfekte Szenerie rechts und links in aller Ruhe genießen. Alle Nase lang legen wir kurze Fotohalte ein. Nach ungefähr 30 Kilometern stoßen wir auf die erste Furt über den Fluß Grafarlandaá. Wir haben uns vorher über die Flußüberquerungen auf dieser Route belesen, aber wenn man vor der ersten Stelle steht, will man doch auf Nummer sicher gehen. Micha zieht die Wathose an und nimmt das Gewässer näher in Augenschein. Kurz darauf kommt ein anderes Auto vorbei und fährt vor uns durch. Prima, jetzt wissen wir ganz genau, wie’s geht. Gar nicht so kompliziert.
Im nächsten Teil der Strecke wechseln sich die Landschaft und auch die Beschaffenheit der Straße gefühlt alle fünf Minuten ab. Da kommt keine Langeweile auf. Nach einigen Kilometern steht am Wegesrand das Hinweisschild auf die verlegte Furt über die Lindaá. Die neue Stelle sieht ziemlich tief aus, auch der Fluß ist recht flott unterwegs. Hier warten wir erst einmal ab, ob uns nicht vielleicht ein vorbeikommender Isländer vormachen kann, wie man am besten rüber auf die andere Seite kommt. Allzu lange dauert es nicht, dann fährt ein etwas höher gelegter Jeep vor und überwindet nach kurzem Inspektionshalt ohne Mühe die Furt. Na, das kriegen wir auch hin. Fast ein wenig zu fix fahren wir durch das Kiesbett des Flusses, so daß wir in seiner Mitte eine kleine Bugwelle aufschieben. Fuß vom Gas bringt uns sicher auf die andere Seite, und nach kurzer Zeit kommen wir am Campingplatz Herðubreiðarlindir an. Hier wartet nochmals eine flache Furt auf uns, aber die ist kein Problem. Micha möchte direkt weiter zur Askja fahren, also fällt der Fotohalt am Schicksalsberg recht knapp aus.
Kurze Zeit später stoppt uns ein entgegenkommender Geländewagen mit irgendeiner offiziell wirkenden Beschriftung auf isländisch. „Lögreglan“ ist es schon mal nicht, Glück gehabt. Zu schnell waren wir keinesfalls, und auch die Uniform des Fahrers sieht nicht nach Polizei aus. Ein junger Typ im Overall steigt aus dem aufgemotzten Offroadfahrzeug aus und erklärt in seiner kurzen Vorstellung, einer der Ranger des Nationalparks Vatnajöküll zu sein und uns gerne mit Rat und Tat zur Seite stehen zu wollen. Na dann… Wir nehmen sein Angebot natürlich an, steigen ebenfalls aus, breiten unsere Hochlandkarte auf der Motorhaube aus und erfahren in einer halben Stunde alles Wissenswerte zu unserem geplanten Ziel und der einzigartigen Landschaft auf dem Weg dorthin. Und auch auf den verbleibenden vierzig Kilometern wechselt sich mit schöner Regelmäßigkeit die Beschaffenheit der Strecke ab. Grauer Schotter, Krustenbrot-Rinde, brauner feiner Sand, gelbes Granulat, Marmorkuchen-Inneres (tiefer, feiner, abwechselnd grauer und gelber Sand), rostfarbenes Geröll, überdimensionale Hundekacke, schwarze Lava und alle möglichen Mischformen kommen hier vor.
Gegen 17 Uhr erreichen wir den Parkplatz der Askja, ab hier sind es noch einmal 2,5 Kilometer Fußmarsch bis zum Kratersee. Dunkle Wolken ziehen auf, also sputen wir uns mal lieber und verschieben das Mittagessen auf später. Ganz schön viele Leute sind heute unterwegs, aber die meisten kommen uns bereits wieder entgegen. Und richtig: am Krater selbst sind außer uns nur noch eine Handvoll Besucher zugange. Micha und ich teilen uns auf und erkunden jeder für sich das Areal. Nach einer dreiviertel Stunde treffen wir uns wieder und machen uns gemeinsam auf den Weg zurück zum Parkplatz, der sich inzwischen ziemlich geleert hat. Ein kurzer Kaffee und ein paar Brote reichen als Snack, denn wir müssen die hundert Kilometer Hochlandpiste ja schließlich auch wieder zurück fahren.
Da uns der Ranger vorhin den Tip gegeben hat, auf dem Rückweg eine andere, landschaftlich aber ebenso reizvolle Route zu nehmen, biegen wir mitten im sandigen Nichts auf eine Piste mit der Nummer 910 ab. Auf dem folgenden Streckenabschnitt überqueren wir einmal den Fluß Jökulsá á Fjöllum auf einer spieligen Einbreiðbru aus Holz. Wenn man hier ins Wasser fiele, wäre das Leben nach drei Sekunden vorbei, so reißend tost der „Gletscherfluß vom Berg“, denn so heißt übersetzt dieser Schmelzwasserablauf des Vatnajöküll. Während der nächsten gut 40 Kilometer habe ich das Gefühl, als habe hier jemand die Strecke mit dem Ziel in die Landschaft integriert, dem Fahrer möglichst viele verschiedene Oberflächenformen und Qualitäten zu bieten. Immer wenn man gerade dachte, man hätte jetzt wirklich alles an Straßen schon mal gehabt, wird wieder ein neuer Belag aus der Designer-Trickkiste gezaubert, und auch der Streckenverlauf wirkt wie der Fortgeschrittenen-Level eines Rallye-Videospiels. Micha gefällt’s. Nach der erneuten Überbrückung der Jökulsá á Fjöllum kommt etwas Ruhe ins Landschaftsbild. Sofern das überhaupt noch möglich ist, wird sie noch karger und changiert wieder in Richtung Mondoberfläche. Zwei unspektakuläre Furten werden überwunden, dann fahren wir wieder in die aus „Oblivion“ bekannte Science-Fiction-Kulisse ein. Ein längerer Fotohalt wird fällig, und ich finde endlich ein Motiv, das ich mir als Triptychon aus Leinwand daheim an die Wand hängen würde. Klasse!
Wir befinden uns nur wenige Kilometer südlich der Ringstraße 1, in einer surreal schönen Szenerie, die von Mondlandschaft im Süden, Sandhügeln und Zipfelbergen von West bis Nord und grünem Hügelland mit gelegentlich eingestreuten Pyramiden aus Vulkangestein im Osten bestimmt wird. Ein Traum, in den sich das kleine Dörfchen Möðrudalur aufs Trefflichste einfügt. „Wie süß!“ würde meine Tochter vermutlich dazu sagen. Es gibt ein Café, eine klitzekleine Kirche mit einem geschätzten Fassungsvermögen von etwa zehn Personen und ein paar schnuckelige Ferienhäuser. Hier würde ich bei einer Rundreise mit Familie gerne eine Übernachtung einlegen. Wird also vorgemerkt für eine der nächsten Touren.
Zum Abendessen bzw. Nachtmahl würde ich gerne noch einmal zum Pseudokrater Hrossaborg zurückkehren, der von unserer aktuellen Position nur wenige Kilometer entfernt liegt. Während das Wasser für das Essen kocht, klettere ich einmal kurz zum Kraterrand hoch, um die Aussicht zu testen. Schon ganz gut, aber das Licht ist noch nicht optimal. Am Himmel hängt eine dünne Schicht Stratus-Bewölkung, unter die die Sonne erst einmal abtauchen muß, um ordentliche Farben zu erzeugen.
Die Küche bietet heute einen Gemüsetopf auf Kartoffelsuppen-Basis, dazu kleine Salami-Würstchen und etwas frisches Obst als Dessert. Nach dem Essen steigen Michael und ich beide noch einmal auf den Kraterrand und werden mit einem fotogenen Sonnenuntergang in warmen Farben belohnt.
Es ist kurz nach 1 Uhr morgens, als wir wieder aufbrechen. Micha hat sich nach der langen Fahrerei ein Nickerchen verdient und schläft nach 5 Minuten auf der Ringstraße denn auch prompt ein. Das will ich ausnutzen und fahre darum zu einem kleinen Krater mit türkisfarbenem Wasser darin, der beim Sonnenuntergang eigentlich ganz gut aussehen sollte. Am Parkplatz wird Doc Snyder kurz wach, nickt aber nach einem kurzen kritischen Kontrollblick auf die Szenerie schnell wieder ein. Ich erklimme über einen ziemlich verschlammten Pfad den Kraterrand und kann ein Top-Foto von der tiefstehenden Sonne schießen. Nachteil: meine Schuhe sind jetzt zwei einzige Schlammklumpen und jeweils mindestens 3 Kilo schwer. Die Pampe klebt wie Hubatz, die kriege ich mit Bordmitteln nicht runter. Glücklicherweise habe ich bei der Anfahrt hierher etwa 2 Kilometer zuvor eine heiße Dusche direkt an der Straße entdeckt, die ich zum Schuheputzen einspannen will.
Die Outdoor-Brause wird, wie auch der dampfende Bach nebenan, aus dem Abwasser eines nahegelegenen Geothermie-Kraftwerks gespeist. Körperwarme Wasserstrahlen helfen, meine Treter in wenigen Minuten wieder leidlich sauber zu bekommen. Micha schläft immer noch, wir haben es mittlerweile kurz nach 2 Uhr. Sind wir also frühestens halb drei daheim. Duschen sollte ich dann wohl im Haus nicht mehr, aber hier ginge das ohne Probleme. Gesagt, getan. Ein Handtuch und Badeschlappen habe ich dabei, die Klamotten schmeiße ich schnell auf die Motorhaube. Ach, das tut gut: eine heiße Dusche in der kühlen Morgenluft bei dramatisch schönem Himmel. Jetzt schnell abtrocknen, die Wechselklamotten angezogen, dann kann’s weitergehen.
Sehr weit kommen wir aber nicht, denn ich entdecke kurz vor Myvatn die Ausschilderung zur aus der der dritten Staffel der TV-Serie „Game of Thrones“ bekannten Badegrotte Grjótagjá, in der John Snow seine Unschuld an die Wildlingsfrau Ygritt verliert.*
Vollbremsung – sorry, Micha – Lenkrad rumgerissen und schnell noch dort vorbeigefahren. Denn wann, wenn nicht jetzt, nachts um halb drei, könnte man die Höhle für sich alleine haben und somit ohne störende Personen fotografieren? Eben.
Das Licht ist zwar nicht wirklich berauschend, aber mit Stativ und Langzeitbelichtung gelingen mir trotzdem ein paar brauchbare Fotos dieser außergewöhnlichen Location. Micha ist inzwischen auch wieder aufgewacht und mahnt mich zur Eile, weil er gerne endgültig ins Bett möchte. Nur ein Foto vom Sonnenaufgang am Ufer des Myvatn muß noch sein, dann habe ich auch genug für heute und lenke unser Auto zurück nach Laugar, wo wir gegen 3 Uhr eintreffen.
in der Grotte Grjótagjá, die Wassertemperatur beträgt 40°C
* Angeblich, denn die Szene wurde im Studio gedreht. Vermutlich war das Wasser einfach zu heiß.

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