
Selfoss
Dienstag, 28. Mai
Wenn man wie wir bei jeder Station nur eine Nacht bleibt, schlaucht das ganz schön. Heute haben wir 500 Kilometer Fahrt vor uns, denn wir müssen ganz in den Norden des Landes, nach Akureyri. Sieht auf dem Titelbild ein bißchen aus wie Narvik in Nordnorwegen – nur ohne den großen Erzhafen. Akureyri ist die zweitgrößte Stadt Islands. Hier leben etwa 17.000 Einwohner. Naja, die werden wir sicher alle noch persönlich kennenlernen, aber erst einmal müssen wir ankommen. Und dazu wiederum sollten wir langsam mal losfahren.
Es ist 10 Uhr morgens in Höfn, der Wind weht schwach aus östlicher Richtung. Und es regnet. War ja klar. Aber heute soll noch schönes Wetter werden, warten wir’s mal ab. Bereits nach einer halben Stunde Fahrt zeigt sich ein erster Riß in der geschlossenen Wolkendecke. Unsere Route führt uns durch die weitgehend unbewohnten Ostfjorde, eine spektakuläre Gegend mit gewaltigen Tafelbergen und vielen Wasserfällen, die aussieht wie ein anderer Planet. Abgefahren. Hier wurde übrigens ein Teil des Science-Fiction-Films „Oblivion“ mit Tom Cruise gedreht. Sollte ich noch einmal nach Island fahren (was mehr als wahrscheinlich ist), dann muß ich unbedingt ein paar Tage hier bleiben.
Auf unserer Route liegen heute die ersten Abschnitte, in denen die Ringstraße 1 nicht vollständig asphaltiert ist, sondern über mehrere Kilometer nur als Schotterpiste existiert. Und gleich der erste Teil führt über 20 Kilometer mit Steigungen von bis zu 17% bergauf. Hier heißt es: höllisch aufpassen, denn die Piste ist schmal, und zumindest auf einer Seite lauert ein gähnender Abgrund. Leitplanken? Fehlanzeige. Grobe Fahrfehler haben an manchen Stellen fatale Konsequenzen. Nun gut, schnell kommt man eh nicht vorwärts, denn die Sichtweite beträgt stellenweise nur 100 Meter. Oben auf dem Fjell liegt Schnee, stellenweise mit haushohen Verwehungen, durch die große Schneepflüge der Ringstraße 1 einen Weg bahnen mußten. Irgendwann haben wir den Bergkamm passiert, und das Wetter wird wieder besser. Gegen Mittag erreichen wir Egilstaðir, die größte Stadt im Osten Islands. Sie liegt auf einer Hochebene, in der die Landschaft aussieht wie in Schweden oder Norwegen. Und woran liegt das? Am Wald. Hier stehen nicht nur die größten Reste des originalen isländischen Baumbestandes, sondern es wird auch großflächig weiter aufgeforstet.
Hinter Egilstaðir schraubt sich der Highway Number One nochmals einige Meter nach oben, und wir passieren ein weiteres Fjell. Wieder liegt Schnee, aber diesmal ist die Sicht wegen Nebel (oder Wolken?) noch schlechter. Weiß, wohin man schaut. Volle Konzentration ist angesagt. Nach etwa 50 Kilometern bessert sich die Witterung, es geht bergab, und wir erreichen einen der spektakulärsten Abschnitte unserer Fahrt. Westlich der Ringstraße kann man heute fast 100 Kilometer weit ins Hochland hineinschauen: eine schier unendliche, baumlose Ödnis, an deren Horizont sich Vulkankegel ausmachen lassen. Wenn uns jemand zu Hause fragte: „Wo habt Ihr Urlaub gemacht?“ und wir antworteten „Auf dem Mond.“, dann hätten wir sogar gerichtsverwertbare Beweisfotos. Kein Wunder, daß die NASA die Astronauten der Apollo-Crews hier zum Training hingeschickt hat. Schwarze Steinwüste, wohin man schaut, allenfalls unterbrochen durch einige Schneefelder. Ich bin glücklich – genau so einen Anblick habe ich mir von Island erwartet und werde dank des guten Wetters nicht enttäuscht.
Etwas abseits unserer Route, aber doch relativ schnell erreichbar, liegt der Dettifoss, einer der Wasserfälle mit dem größten Kubikmeter-Wasser-pro-Sekunde-Wert Islands. Man muß allerdings derzeit noch durch Schnee und Matsch zum Rand des Flusses laufen und kommt auch wegen der Schneeverwehungen nicht ganz an die optimale Stelle zum Fotografieren ran, aber beeindruckend ist der Ort allemal. Auf dem Rückweg zur Hauptstraße knallt die Sonne enorm auf uns herab, so daß wir mit offenen Fenstern fahren können. Wir nähern uns dem See Myvatn, als plötzlich auf der linken Seite der Straße allerlei rauchende Schlote zu erkennen sind. Fast vergessen: wir sind ja auf dem Mond – ganz klar! Aber nein, das riecht nach faulen Eiern – muß wohl doch Island sein. Was da so qualmt und stinkt, sind sogenannte Fumarolen: Öffnungen in der Erdkruste, durch die heiße Schwefeldämpfe aus tieferen Schichten aufsteigen und hier an der Oberfläche kondensieren. Schwefel lagert sich an den Austrittslöchern ab, und so entstehen im Laufe der Zeit kleine Hügel, die enorm ätzende Wolken produzieren. Man fühlt sich ein wenig in die Anfangstage der Erdgeschichte zurück versetzt, als es vermutlich auch in Mitteleuropa so ausgesehen hat wie hier.
Ein ganz und gar einzigartiger Ort ist der See Myvatn. Wenn man über die Ringstraße 1 über den Bergkamm auf den See zu fährt, glaubt man sich auf einem anderen Planeten zu befinden. Geht mir jedenfalls so. Myvatn liegt in einem etwa 100 km großen runden, flachen Talkessel. Im Osten sind noch die roten Sandgebiete zu erkennen, aus denen der Schwefeldampf aufsteigt, weiter nach Süden wird der Boden schwarz von Vulkanasche. In diesem Gebiet gibt es auch einige bemerkenswert hohe Vulkankegel. Im Westen wird es grün und hügelig, und im Norden dominiert eher karge Felslandschaft mit vielen verschneiten Berggipfeln. Um dieses sehr abwechslungsreiche Panorama so richtig genießen zu können, bräuchte man mindestens eine Woche, aber so viel Zeit haben wir nicht, und deshalb beschränken wir uns auf einen halbstündigen Fotostop in Hobbingen, also dem Grüne-Hügel-Gebiet am westlichen Ufer. Bis Akureyri sind es nur noch 80 Kilometer, aber ein weiterer Zeitverschlinger wartet auf uns unterwegs: der Goðafoss.
Was habe ich im Internet nicht alles schon an tollen Fotos dieses Wasserfalls gesehen! Vor allem die Bilder von Raymó in der Fotocommunity haben es mir angetan. Allerdings erweist sich der strahlende Sonnenschein heute in zweierlei Hinsicht als Motivkiller. Erstens, ganz klar: Gegenlicht an einem Wasserfall mit ordentlich Gischt – da sieht man kaum noch Details vom herabstürzenden Fluß. Zweitens, und damit kommen wir zu der Frage: „Woher kommt denn all das viele Wasser?“ Richtig, vom Gletscher. Und der schmilzt, wenn Sonne darauf scheint. Viel Sonne = viel Schmelzwasser. Viel Schmelzwasser = voller Fluß. Voller Fluß = viel Gischt. Viel Gischt + viel Sonne = weiße Suppe. Den World-Photo-Award werden wir mit unseren Bildern von heute, trotz aller Bemühungen, wohl nicht gewinnen, aber dafür haben wir trotzdem viel Spaß bei der Suche nach dem optimalen Foto unter schwierigen Bedingungen.
Nach einer weiteren Stunde Fahrt kommen wir endlich in Akureyri an. Jetzt ist aber ganz schön die Luft raus. Wir beziehen unser Zimmer im schicken Icelandair-Hotel und gehen unten im Restaurant noch einen hausgemachten Burger essen. Für umgerechnet 15 Euro, den Wert in isländischen Kujambeln habe ich vergessen, ist jedenfalls astronomisch hoch. Vermutlich fünfstellig. So muß sich Inflation anfühlen. Aber heute abend haben wir einfach keine Lust mehr, noch im Ort herumzulaufen und auswärts etwas zu Futtern zu suchen. Mit dem flüchtigen Sortieren der heutigen Ausbeute (im Bett liegend, und schon mit ziemlich schweren Augenlidern) endet dieser lange Reisetag.
Akureyri

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